Eine erfolgreiche Unternehmerin möchte sich ein Domizil errichten lassen. Enge Freunde raten ihr, ein Architekturbüro mit dem Entwurf zu betrauen und die Erstellung begleiten zu lassen. Nur so ließen sich die legendären Probleme beim Hausbau (ungeeignete Entwürfe, mangelnde Koordination, schlechte Ausführung, Pfusch bei Details, Kostenexplosion und Terminüberschreitung) vermeiden.

Um die für ihr Vorhaben geeigneten Architekt:innen zu finden, beschließt sie, einigen namhaften Büros kleinere Testaufträge für Einfamilienhäuser zu erteilen. Natürlich verrät sie keinem der Kandidaten, dass diese Aufträge eigentlich Tests für das endgültige Unterfangen sind.

Nach einer entsprechenden Ausschreibung in einigen überregionalen Tageszeitungen trifft unsere Bauherrin folgende Vorauswahl: ƒ* Wasserfall-Architektur KG, Spezialisten für Gebäude und Unterfangen aller Art,

  • V&V Architektur GmbH & Co. KG, Spezialisten für Regierungs-, Prunk- und Profanbauten,
  • ExtremArchitekt:innen AG.

Alle Büros erhalten identische Vorgaben: Ihre Aufgabe besteht in Entwurf und Erstellung eines Einfamilienhauses (EFH). Weil unsere Unternehmerin jedoch sehr häufig, manchmal fast sprunghaft, ihre Wünsche und Anforderungen ändert, beschließt sie, die Flexibilität der Kandidaten auch in dieser Hinsicht zu testen…

Wasserfall-Architektur KG

Die Firma residiert im 35. Stock eines noblen Bürogebäudes. Dicke Teppiche und holzvertä- felte Wände zeugen vom veritablen Wohlstand der Firmeneigner.

„Wir entwerfen auch komplexe technische Systeme“, erklärt ein graumelierter Mittfünfziger der Bauherrin bei ihrem ersten Treffen. Sein Titel „Bürovorsteher“ prädestiniert ihn wohl für den Erstkontakt zu dem vermeintlich kleinen Fisch. Von ihm und einer deutlich jüngeren Assistentin wurde sie ausgiebig nach ihren Wünschen hinsichtlich des geplanten Hauses befragt.

Als sie die Frage nach den Türgriffen des Badezimmerschranks im Obergeschoss nicht spontan beantworten kann, händigt man ihr ein Formblatt aus, das ausführlich ein Change-Management-Verfahren beschreibt.

Das Team der Wasserfall-Architektur KG legte nach wenigen Wochen einen überaus detaillierten Projektplan vor. Gantt-Charts, Work-Breakdown-Struktur, Meilensteine, alles dabei. Die nächsten Monate verbrachte das Team mit der Dokumentation der Anforderungsanalyse sowie dem Entwurf.

Pünktlich zum Ende dieser Phase erhielt die Unternehmerin einen Ordner (zweifach) mit fast 400 Seiten Beschreibung eines Hauses. Nicht ganz das von ihr Gewünschte, weil das Entwicklungsteam aus Effizienzgründen und um Zeit zu sparen einige (der Bauherrin nur wenig zusagende) Annahmen über die Größe mancher Räume und die Farbe einiger Tapeten getroffen hatte. Man habe zwar überall groben Sand als Bodenbelag geplant, könne das aber später erweitern. Mit etwas Zement und Wasser vermischt, stünden den Hausbewohnern später alle Möglichkeiten offen. Im Rahmen der hierbei erwarteten Änderungen habe das Team vorsorglich die Treppen als Rampe ohne Stufen geplant, um Arbeitern mit Schubkarren den Weg in die oberen Etagen zu erleichtern. Das Begehren unserer Unternehmerin, doch eine normale Treppe einzubauen, wurde dem Change-Management übergeben.

Die nun folgende Erstellungsphase (die Firma verwendete hierfür den Begriff „Implementierungsphase“) beendete das Team in 13 statt der geplanten acht Monate. Die fünf Monate Zeitverzug seien durch widrige Umstände hervorgerufen, wie ein Firmensprecher auf Nachfrage erklärte. In Wirklichkeit hatte ein Junior-Planning-Consultant es versäumt, einen Zufahrtsweg für Baufahrzeuge zu planen – das bereits fertiggestellte Gartenhaus musste wieder abgerissen werden, um eine passende Baustraße anlegen zu können.

Ansonsten hatte das Implementierungsteam einige kleine Schwächen des Entwurfs optimiert. So hatte das Haus statt Treppe nun einen Lastenaufzug, weil sich die ursprünglich geplante Rampe für Schubkarren als zu steil erwies.

Das Change-Management verkündete stolz, man habe bereits erste Schritte zur Anpassung des Sandbodens unternommen: Im ganzen Haus seien auf den Sand Teppiche gelegt worden. Leider hatte ein Mitglied des Wartungsteams über den Teppich dann, in sklavischer Befolgung der Planungsvorgaben, Zement und Wasser aufgebracht und mit Hilfe ausgeklügelt brachialer Methoden zu einer rotgrauen zähen Paste vermischt. Man werde sich in der Wartungsphase darum kümmern, hieß es seitens der Firma.

Die zu diesem Zeitpunkt von den Wasserfall-Architekt:innen ausgestellte Vorabrechnung belief sich auf das Doppelte der ursprünglich angebotenen Bausumme. Diese Kostensteigerung habe die Bauherrin durch ihre verspätet artikulierten Zusatzwünsche ausschließlich selbst zu verantworten.

V&V Architektur GmbH & Co. KG

Die V&V Architektur GmbH & Co. KG (nachfolgend kurz V&V) hatte sich in den vergangenen Jahren auf Regierungs-, Prunk- und Profanbauten spezialisiert. Mit dem unternehmenseigenen Verfahren, so wird versichert, könne man garantiert jedes Projekt abwickeln. Der von V&V ernannte Projektleiter überraschte unsere Unternehmerin in den ersten Projektwochen mit langen Fragebögen – ohne jeglichen Bezug zum geplanten Haus. Man müsse unbedingt zuerst das Tailoring des Vorgehensmodells durchführen, das Modell exakt dem geplanten Projekt anpassen.

Am Ende dieser Phase erhielt sie, in zweifacher Ausfertigung, mehrere Hundert Seiten Dokumentation des geplanten Vorgehens.

Dass ihr Einfamilienhaus darin nicht erwähnt wurde, sei völlig normal, unterrich­tete sie der Projektleiter. Erst jetzt, in der zweiten Phase, würde das konkrete Objekt geplant, spezifiziert, realisiert, qualitätsgesi­chert und konfigurations­verwaltet.

Der Auftraggeberin wurde zu diesem Zeitpunkt auch das „Direktorat EDV“ der Firma V&V vorgestellt. Nein, diese Abteilung befasste sich nicht mit Datenverarbeitung – die Abkürzung stand für „Einhaltung Des Vorgehensmodells“.

Nach einigen Monaten Projektlaufzeit stellte unsere Bauherrin im bereits teilweise fertigge­ stellten Haus störende signalrote Inschriften auf sämtlichen verbauten Teilen fest. Das sei urkundenechte Spezialtinte, die sich garantiert nicht durch Farbe oder Tapete verdecken ließe, erklärte V&V stolz. Für die Qualitätssicherung und das Konfigurationsmanagement seien diese Kennzeichen unbedingt notwendig. Ästhetische Einwände, solche auffälligen Markierungen nicht in Augenhöhe auf Fenster, Türen und Wänden anzubringen, verwarf die Projektleitung mit Hinweis auf Seite 354, Aktivität PL 3.42, Paragraph 9 Absatz 2 des Vorgehensmodells, in dem Größe, Format, Schrifttyp und Layout dieser Kennzeichen ver­bindlich definiert seien. Die Bauherrin hätte bereits beim Tailoring widersprechen müssen, nun sei es wirklich zu spät.

Extrem-Architekt:innen AG

Die Extrem-Architekt:innen laden unsere Unternehmerin zu Projektbeginn zu einem Planungs­spiel ein. Jeden Raum ihres geplanten EFH soll sie dabei der Wichtigkeit nach mit Gummi­bärchen bewerten. Die immer nur paarweise auftretenden Architekt:innen versprechen ihr eine erste funktionsfähige Version des Hauses nach nur sechs Wochen. Auf Planungsunterlagen würde man im Zuge der schnellen Entwicklung verzichten.

Zu Beginn der Arbeiten wurde das Team in einer Art Ritual auf die gemeinsame Vision des Hauses eingeschworen. Wie ein Mantra murmelten alle Teammitglieder ständig mit seltsam gutturaler Betonung die Silben „Einfa­Milien­Haus“, was sich nach einiger Zeit zu „Ei­Mi­Ha“ abschliff. Mehrere Außenstehende wollen gehört haben, das Team baue einen bewohnbaren Eimer. Sie stellten eine überdimensionale Tafel am Rande des Baugeländes auf. Jeder durfte darauf Verbes­ serungsvorschläge oder Änderungen eintragen. Dies gehöre zu einem Grundprinzip der Firma: „Kollektives geistiges Eigentum: Planung und Entwurf gehören allen.“

Nach exakt sechs Wochen laden die Extrem­Architekt:innen die Unternehmerin zur Besichtigung der ersten funktionsfähigen Version ein. Wieder treten ihr zwei Architekt:innen entgegen, jedoch erkennt sie nur einen davon aus dem Planungsspiel wieder. Der andere arbeitet jetzt bei den Gärtnern. Der ursprüngliche andere Gärtner hilft dem Elektriker, ein Heizungsbauer entwickelt dafür die Statik mit. Auf diese Weise verbreite sich das Projektwissen im Team, erläutern beide Architekt:innen eifrig.

Man präsentiert ihr einen Wohnwagen. Ihren Hinweis auf fehlende Küche, Keller und Dachgeschoss nehmen die Extrem­Architekt:innen mit großem Interesse auf (ohne ihn jedoch schriftlich zu fixieren).

Weitere sechs Wochen später hat das Team eine riesige Grube als Keller ausgehoben und den Wohnwagen auf Holzbohlen provisorisch darüber befestigt. Das Kellerfundament haben ein Zimmermann und ein Statiker gegossen. Leider blieb der Beton zu flüssig. Geeignete Tests seien aber bereits entwickelt, dieser Fehler käme garantiert nie wieder vor. Mehrere weitere 6­Wochen­Zyklen gehen ins Land. Bevor unsere Unternehmerin das Projekt (vorzeitig) für beendet erklärt, findet sie zwar die von ihr gewünschte Küche, leider jedoch im Keller. Ein Refactoring dieses Problems sei nicht effektiv, erklärte man ihr. Dafür habe man im Dach einen Teil der Wohnwagenküche verbaut, sodass insgesamt die Zahl der Küchen­ Gummibären erreicht worden sei.

Das immer noch flüssige Kellerfundament hat eines der Teams bewogen, auf die Seitenwände des Hauses auf Dauer zu verzichten, um die Lüftung des Kellers sicherzustellen. Im Übrigen besitzt das Haus nur ein Geschoss, das aktuelle Statik­Team (bestehend aus Zimmermann und Gärtner) hat dafür die Garage in drei Kinderzimmer unterteilt.

Weil das Team nach eigenen Aussagen auf die lästige und schwergewichtige Dokumenta­tion verzichtet hatte, waren auch keine Aufzeichnungen der ursprünglichen Planung mehr erhalten.

Im Nachhinein beriefen sich alle Projektteams auf ihren Erfolg. Niemand hatte bemerkt, dass die Bauherrin keines der „implementierten“ Häuser wirklich akzeptierte.

Nachtrag

Ich empfehle iterative Prozesse mit Feedback - aber es soll vorgekommen sein, dass Teams die Agilität als Deckmantel für Anarchie verwenden! Ich hoffe für Sie, dass Sie agile entwickeln dürfen - und Sie agile Prozesse angemessen einsetzen können.